Die actio libera in causa ist einer der abgedrehteren Problemkreise der juristischen Anfangssemester. Im Zentrum der Problematik steht dabei regelmäßig ein Täter, nennen wir ihn A, der sich vorgenommen hat, eine Straftat, beispielsweise in Form der Körperverletzung nach § 223 I StGB, zu begehen. Da A aber weiß, dass die Körperverletzung unter Umständen auch mit einer Freiheitsstrafe sanktioniert werden kann, betrinkt er sich. Jedoch trinkt er sich keinen Mut an, sondern vielmehr versucht A, einen Promillestand von 3,0 (regelmäßig 3,3 bei Tötungsdelikten) zu übersteigen. Ab diesem Punkt wäre A nämlich nicht mehr schuldfähig (§ 20 StGB) und könnte deshalb grundsätzlich nicht mehr nach § 223 I StGB bestraft werden.
Wer sich im Strafrecht schon ein wenig auskennt, wird an dieser Stelle dann bereits gedanklich die Anwendbarkeit des § 323a StGB bejahen. Hiernach kann derjenige, der sich in einen Rausch versetzt, daraufhin eine rechtswidrige Tat begeht und nach dieser – aufgrund des Rausches – nicht bestraft werden kann, immerhin noch mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren sanktioniert werden. Das wirkt also auf den ersten Blick wie ein recht lückenloses System.
Problematischer wird es aber dann, wenn A nicht nur eine Körperverletzung begehen wollte, sondern direkt einen Mord nach § 211 StGB, denn hier würde nun aufgrund des Vollrausches die lebenslängliche Freiheitsstrafe auf maximal fünf Jahre – faktisch – „herabgesenkt“ werden. Recht früh war man sich einig, dass dieses Endergebnis nicht tragbar sei. Problematisch war gleichwohl, dass ein täternachteiliges Abweichen vom Gesetzeswortlaut und der dazugehörigen Systematik im Strafrecht grundsätzlich nicht zulässig ist. Wie unterschiedliche Ansichten dennoch zu einem vertretbaren Ergebnis gelangen können, möchte ich dir im Nachfolgenden aufzeigen.
Der Meinungsstand
Ausnahmemodell
Anhänger des Ausnahmemodells erkennen das obige Problem und lösen es recht pragmatisch. Um jedoch diese und die nachfolgenden Theorien zu verstehen, muss man sich zunächst das Zusammenspiel von § 8 und § 20 StGB genauer ansehen. Das Koinzidenzprinzip (auch Simultanitätsprinzip), welches seinen Niederschlag in § 8 StGB findet, schreibt vor, dass im Zeitpunkt der Begehung der Tat sowohl die Tatbestandsmäßigkeit, als auch die Rechtswidrigkeit und Schuld vorliegen müssen. Auch § 20 StGB erwähnt explizit, dass ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat (…).
Im obigen Fall liegt im Zeitpunkt der klassischen Begehung der Tat – also dem Tötung- oder Körperverletzungsakt selbst – aufgrund des Vollrausches eben gerade keine Schuld des Täters vor. Nach dem Ausnahmemodell soll das aber kein Problem sein, da nach dieser Ansicht gewohnheitsrechtlich bereits eine Ausnahme des Koinzidenzprinzips anerkannt ist. Ausnahmsweise also, soll es kein Problem sein, dass der Täter schuldlos handelte im Zeitpunkt der Tatbegehung, soweit er beispielsweise im Zeitpunkt des Betrinkens grundsätzlich schuldfähig war.
Da diese Ansicht jedoch gegen das fundamentale Koinzidenzprinzip und damit gegen den Bestimmtsheitsgrundsatz aus Art. 103 II GG verstößt, wird man für sie nur schwer überzeugende Argumente in der Klausur anführen können.
Ausdehnungsmodell
Dasselbe Resultat ergibt sich auch für das Ausdehnungsmodell, wenn gleich hier der Lösungsansatz leicht abweicht. So sollen nach diesem Ansatz das Sich-Betrinken und die anschließende Tatbegehung zu einem Gesamtgeschehen zusammengefasst werden, da man so grundsätzlich dann zumindest zu Beginn des Gesamtgeschehens eine Schuld des Täters bejahen könnte.
Gleichwohl kommt auch diese Ansicht nicht um das Problem herum, dass im Zeitpunkt der Tatbegehung selbst die Schuld abzulehnen ist, mithin also nicht während des gesamten Geschehens vorliegt. Letztlich verstößt dadurch auch diese Ansicht gegen das oben besprochene Koinzidenzprinzip und ist wohl abzulehnen.
Gemein haben diese beiden ersten Ansichten jedoch, dass sie direkt an die Tathandlung selbst anknüpfen, aber auf ihre jeweils eigene Weise versuchen, die in diesem Zeitpunkt fehlende Schuld zu kompensieren.
Werkzeugtheorie
Selbstverständlich lässt sich aber auch ein anderer Ansatzpunkt wählen. Die Werkzeugtheorie beispielsweise knüpft, wie auch die nachfolgende Ansicht, an den Zeitpunkt des Sich-Betrinkens an.
Nach der Werkzeugtheorie ruft der Täter durch den übermäßigen Konsum von Alkohol ein Strafbarkeitsdefizit in Form der fehlenden Schuld hervor. Die Tat im Rausch soll ihm dann über § 25 I Alt. 2 StGB als mittelbaren Täter zugerechnet werden, da er zu diesem Zeitpunkt noch voll schuldfähig war. Der Täter instrumentalisiert sich folglich selbst und begeht dann als Werkzeug die zuvor geplante Tat.
Was an sich ein sehr spannender Gedankengang ist, scheitert in der Praxis dann wohl am schlichten Wortlaut des § 25 I Alt. 2 StGB, der verlangt, dass die Tat „durch einen anderen“ begangen wird. Auch wenn Menschen ihre Persönlichkeit rauschbedingt häufig ändern, wird man wohl nicht annehmen können, dass der Täter dadurch „jemand anderes“ im Sinne der Vorschrift wird.
Mithin ist – trotz ihres interessanten Ansatzes – auch diese Theorie in der Klausur abzulehnen.
Vorverlagerungstheorie
Bleibt noch die unter Umständen bereits bekannte Vorverlagerungstheorie. Wie auch die Werkzeugtheorie setzt auch sie an dem Sich-Betrinken an. Hiernach liegt die Tatbegehung alleinig im Sich-Betrinken, und nicht, wie beim Ausdehnungsmodell sowohl im Sich-Betrinken als auch in der Tötung (bzw. Körperverletzung). In diesem Zeitpunkt handelte der Täter noch schuldfähig, weshalb, sofern der Täter dabei schon Vorsatz bezüglich des Erfolges hatte, das Koinzidenzprinzip erfüllt wäre.
Entscheidend ist für diese Ansicht jedoch, dass die Tat auch durch ein Sich-Betrinken begangen werden kann. Regelmäßig werden deshalb nur Erfolgsdelikte im Rahmen der a.l.i.c. zur Strafbarkeit führen können. Bei § 212 I StGB wird nur verlangt, dass der Tod eines anderen „verursacht“ wurde. Dies kann durchaus auch dadurch geschehen, dass man sich in einen Rausch trinkt.
Werden hingegen spezielle Modalitäten an die Tatbegehung geknüpft, wird eine Vorverlagerung der Tatbegehung nicht möglich sein (noch sehr strittig!), da hier nicht nur die Verursachung des Erfolges, sondern eben die Begehung selbst strafbar ist und zum Zeitpunkt der Begehung bereits Schuldunfähigkeit eingetreten ist (z.B. bei § 153 StGB).
Behandlung in der Klausur
In der Klausur ist zunächst einmal die Strafbarkeit des Täters ganz normal zu prüfen und als Ansatzpunkt die eigentliche Tathandlung zu wählen. Erst im Rahmen der Schuld ist sodann der Vollrausch anzusprechen und bspw. in der vorliegenden Reihenfolge auf die vier verschiedenen Ansichten einzugehen. Im Rahmen der Vorverlagerungstheorie ist weiter zu untersuchen, ob sie überhaupt auf das entsprechende Delikt angewendet werden kann. Ist dies der Fall, muss dann das Vorliegen des Vorsatzes, der Rechtswidrigkeit und der Schuld im Zeitpunkt des Sich-Betrinkens untersucht werden. Insbesondere der Vorsatz ist dabei regelmäßig sehr genau zu untersuchen, da dieser häufig erst nach dem Betrinken gefasst wird.